Die Habilitationsschrift behandelt das Vordringen von Schriftbeweis und Urkundenzeichen und den Wandel von Wahrnehmungs- und Beglaubigungsformen an der Wende vom Hoch- zum Spätmittelalter (12.–14. Jahrhundert). Sie versucht interdisziplinär im Sinne einer übergreifenden Kultursemiotik, Ansätze der Schriftlichkeitsforschung, Diplomatik, Rechtsgeschichte und Wissensgeschichte für die Interpretation von literarischen Motiven und Strukturen fruchtbar zu machen. Im Zuge der Modernisierung und Verschriftlichung des Rechts schaffen Papstkirche, geistliche Gerichte und Fürstenkanzleien ein eigenes Zeichensystem graphischer Marken und Symbole, die zur Beglaubigung und Wahrheitsermittlung eingesetzt werden. Während die ältere Adelskultur Recht und Wahrheit vorwiegend über gesprochenes Wort, Rechtssymbole, Körperzeichen und Augenschein definierte, wird an der Urkundenschrift im Spannungsfeld von Echtheit und Fälschung ein neuer beobachtender, kritischer Blick entwickelt. Dieser korrespondiert mit theoretischen Modellen der zeitgenössischen Wahrnehmungstheorie und Optik.
Der Wandel der Beweisformen strahlt seit dem 13. Jahrhundert strukturbildend auf den literarischen Bereich aus. Das gilt für religiöse Gattungen wie Exempel- und Legendendichtung und mystische Autobiographie sowie für Themenfelder wie Kanonisation, Buße und Gewissenserforschung. Sogar die persönliche Gottesbeziehung wird nicht mehr nur traditionell als stimmliche Vergegenwärtigung, sondern nach einem neuen franziskanischen Modell als urkundliche Einschreibung gedeutet. Auch höfische Dichtungen wie ‚Gregorius’ und ‚Tristan’ reflektieren diesen Wandel. Im Herrscherkontext der Geschichtsdichtung begegnen urkundliche Formen der Rechtsetzung und Rechtswahrung. Graphische Verschlüsselungen und Dekodierungen strukturieren semiotische Erzählszenarien der höfischen Intrige. Und die höfische Liebe wird in Romanen und Minne-Allegorien im Widerspiel von Liebesverrat und Liebesbeweis zunehmend wie ein urkundliches Rechtsgeschäft inszeniert.