Schon in ihrer Kindheit wurde Elfriede Jelinek von Wilhelm Müllers „Winterreise“-Zyklus und dessen Vertonung durch Franz Schubert inspiriert. In den beiden frühen Romanen „Lust“ und „Die Klavierspielerin“ nahm sie intertextuell Bezug auf Müllers Vorlage. Ihr jüngstes Drama „Winterreise“ präsentiert sich schließlich als elegischer Gipfelpunkt, in dem die Sehnsucht nach romantischer Innerlichkeit einer radikalen Negation von Subjektivität entgegengestellt wird. Jelinek adaptiert Müllers erzählende Lyrik um einen nach missglückter Liebe ausziehenden Vagabunden, dessen Selbst sich an der unheilvollen Außenwelt zu verlieren droht. Das Bewusstsein einer brüchig gewordenen Welt, das sich im 19. Jahrhundert herausbildete, wird zur Chiffre einer von Banken- und Medienskandalen durchsetzten Gegenwart. Die daraus resultierende Erudierung des Identitätsbegriffes ist Gegenstand von Björn Hayers Analyse der Jelinek'schen „Winterreise“. Er konstituiert eine ästhetische Beziehungsstiftung zu Müllers romantischer Vorlage über die Jahrhundertgrenzen hinweg und führt existenzielle Gefühle wie Heimatlosigkeit, Entfremdung und Ohnmacht als epochenübergreifende Konstanten vor Augen.