Dass eine Interpretation dem Text, auf den sie sich bezieht, angemessen sein soll, ist eine ganz selbstverständliche Vorstellung. Umso verwunderlicher ist es, dass in den klassischen hermeneutischen Theorien so gut wie nie expliziert wird, was eigentlich darunter zu verstehen ist: Es gibt keine Kriterien zur Evaluation der Angemessenheit von Interpretationen.
Die vorliegende Studie rekonstruiert die Vorstellungen einer hermeneutischen Angemessenheit anhand einiger der wirkungsmächtigsten philologischen Hermeneutiken seit dem 18. Jahrhundert. Was jeweils als angemessene Interpretation gilt, hängt maßgeblich von vortheoretischen Entscheidungen darüber ab, was ein literarischer Text eigentlich ist und was an ihm überhaupt einer Erklärung bedarf. Die hermeneutische Angemessenheit ist insofern ein Topos, also eine Annahme, die ihrerseits nicht hinterfragt oder begründet wird, die aber zahlreiche hermeneutische Regeln und Methoden legitimiert.