Literarische Bibliotheken mit ihrem vielfältigen ›Innenleben‹ stellen ein besonderes Faszinosum der Weltliteratur dar. In ihrem Darstellungsreichtum überraschen diese Wissensräume als Labyrinthe und Gruselkabinette, als Zufluchtsorte melancholischer Leser oder als Inspirationsquellen und bieten als spannungsreiches Bezugsgeflecht zwischen der Bibliothek als Wissensraum, dem Bibliothekar und dem Leser sowie den divergierenden Positionierungen in den Büchern der Bibliothek eine Plattform zur Verhandlung von Wissensansprüchen wie von Konzepten der Gelehrsamkeit, bei denen die Grenze zwischen Fiktionalität und Realität aufgeweicht wird. Bibliotheken gelten als Zentren der Wissensverbreitung oder Wissensvereitlung, sie sind Symbole europäischer Kultur und zugleich Orte mit geheimnisvoller Ausstrahlung: Als ›Kathedralen des Geistes‹ und Speicher kollektiven Wissens werden sie von einem Hauch sakraler Feierlichkeit oder Unheimlichkeit durchweht. Die multiplen Bedeutungen einer Bibliothek sind mit der Ordnung, Systematisierung, Aufbewahrung und Verwahrung von Wissen nur kurz skizziert. In der Literatur bietet die gelehrsame Atmosphäre der fiktionalen Bibliothek den Lesern, Weltfremden, Außenseitern und Heimatlosen eine Zuflucht, um sich in weltflüchtender Lektüre der eigenen Phantasie und Einsamkeit abseits der Welt da draußen hinzugeben, so dass die Bibliothek in vielfältiger Hinsicht zu einem ›Gegen-Ort‹ wird. In den hochspezifischen Besonderheiten literarischer Bibliotheken bildet sich zugleich das Machtgefüge zwischen Bibliothekar und Leser, zwischen Außenwelt und dem ›Gegen-Ort‹ Bibliothek ab. Die Bibliothek ist nicht nur architektonisches Kunstwerk und Aufbewahrungsort oder geheimer Speicher von Wissen, sondern sie wird zunehmend zum Wissenskatalysator, Imaginationsraum und Sozialbiotop.