Die Frage nach Schlesien in regional vergleichenden, nationalen wie europäischen Bezugsfeldern hat sich in den letzten Jahren im produktiven Sinne als herausfordernd erwiesen. Das Thema der vom 12.–14. Oktober 2012 in Kamien Slaski veranstalteten Konferenz „Corpora und Canones. Schlesien und andere Räume in Sprache, Literatur und Wissenschaft“ sollte zwei Grundkomplexe unserer Wissenschaft, Sprach- und Literatur/Kulturwissenschaft, sowie drei ihrer Grundvoraussetzungen, Sprache, Literatur und Wissenschaftsgeschichte, in ihrer scheinbaren Selbstverständlichkeit, aber auch in ihrer Problematik kritisch beleuchten helfen. Frei von tendenziösen Methoden der Vergangenheit, alten ideologischen Belastungen bzw. einer durch „Raumscheu“ gekennzeichneten Haltung vollzog die Germanistik in Polen und in der Bundesrepublik Deutschland in den letzten drei Dezennien in der Schlesienforschung eine Wendung zur Empirie, zum klärenden Überblick, zum sachlichen Handwerk, eingeschlossen darin die Neigung zum Überprüfen des Bestandes an wissenschaftsgeschichtlichen Urteilen, an nationalen Denkmustern wie Strategien minderheitenpolitischer Funktionsträger, an rhetorischen Rauminszenierungen.

Die Beurteilung von Literatur als Beitrag zur Entwicklung des nationalen Bewusstseins und der philologische Nationalismus einer Kanonbildung sind längst überwunden, nachdem zunächst die Sozialgeschichte, dann die ihr teilweise opponierende Kulturwissenschaft Texte und andere Medien auf Andersgesellschaftliches hin ansah. Die Relativität von Kanonbildungen ist beschrieben und historisch geklärt worden. Unstrittig kann das Spezifische des jeweiligen Kanons erst heraustreten, wenn man diesen vom aufgedrungenen Ideal der Ewigkeit befreit. So wandte sich vor Jahrzehnten die Aufmerksamkeit der Kanonformung unter den Bedingungen von normativen Form- und Gattungszwängen zu, auch wurde die Ästhetikkonvention aufgeben, wonach eine bestimmte Qualität erst einen Text zu einem literarischen Text mache. Bald darauf gerieten patriarchalische und europazentrische Ausschlussmechanismen in Kunst- und Literaturgeschichtsschreibung in die Kritik. Mit Regionalliteratur wurde jenseits der wissenschaftlich-politischen Belastungen durch den Heimatbegriff ebenfalls ein Gesichtspunkt vorgeschlagen, unter dem ein Kanon darstellbar und deutbar wäre, in neuerer Zeit diskutiert man die Kanonformung unter der Maßgabe, (neu) am kulturellen Gedächtnis zu arbeiten, eingeschlossen auch die sozialethische Rehabilitierung einst unterdrückter Autoren und Werke. Damit bot sich der Gewinn, die Kanonwertigkeit von Literatur in Bezug auf Fragen zu beurteilen, statt den Zufall der Schullektüren zu beklagen, was freilich die intellektuelle Arbeit an neuen Canones und den Verzicht auf deren normative Geltung bedeutet. Daher erschien es vielen Beiträgern geraten, auf einen konzeptionell bzw. methodisch informierenden „Vorspann“ nicht zu verzichten. Zugearbeitet werden sollte einem Wissenschaftsverständnis, das seine leitenden Fragen am Material abstrahiert wie aus gesellschaftlichen, mithin auch hochschuldidaktischen Bedürfnissen ableitet. Dem entspricht die Vielfalt der Beiträge.

Diverse Digitalisierungsprojekte via Internet, aber auch herkömmliche Materialaufnahmen – durch Schrift und Aufnahmetechnik fixiert – bemühen sich auch in Polen um die Bereitstellung einer überraschenden Fülle von bisher noch kaum erschlossenem sprachlichen Material. Die ausgebreiteten Themen und registrierten sprachlichen Phänomene sollten auf unserer Konferenz, eben durch die Methode, wie sie ausgebreitet werden, zu neuen Fragen und nützlichen Einsichten führen. Es geht mithin um eine linguistische Betrachtung, die sich nicht lediglich in der Breite neuen Materials ausdehnt, sondern in die Tiefe führt. Einen Anspruch auf kulturelle Bewertung, auf Gesellschaftliches dokumentieren daher auch die sprachwissenschaftlichen Beiträge. Die Gegenwart nimmt für sich in Anspruch, eine Informations- und Wissensgesellschaft zu sein, und in der Tat verfügte keine historisch bekannte Periode über mehr faktologisches Wissen, das zugleich über das Internet so demokratisch wie nie zuvor zugänglich ist. Gerade deshalb muß die Wissenschaft Verständnisformen entwickeln. In dem, was sie anbietet, sollte es möglich sein, dass sich die germanistische Wissenschaft als unvergleichliches Instrument der Beschreibung und Bemeisterung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft rechtfertigt. Das ist es gerade, was die Gesellschaft den Geistes- und Kulturwissenschaften verdankt, dass sich mittels ihrer Forschungen eine neue Dimension in ihrem Gegenwartsbewusstsein öffnen lässt, indem geschichtliche Zeiten mit ihren Schöpfungen und aktuellste Entwicklungstendenzen durch Reflexion neuer gegenwärtiger Besitz zu werden vermögen. Die abgedruckten Beiträge entstanden aus dem Bedürfnis einer klärenden Vergegenwärtigung dieses Auftrags. Und sie wollen Gelegenheit bieten, die hier angedeuteten Perspektiven unseres Themas zu verfolgen und ihnen im kollegialen Austausch weiter nachzugehen.

Für die redaktionelle Mithilfe danken die Herausgeberinnen Kolleginnen und Kollegen am germanistischen Institut Opole, namentlich Dr. Mariola Majnusz-Stadnik, Dr. Justyna Dolinska, Mag. Marek Sitek. Auch danken wir dem Verlagsleiter Herrn Dr. Wolfgang Weist für die harmonische Kooperation bei der Drucklegung. Dank sagen möchten wir vor allem der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit für die Förderung der Konferenz und ihrer Drucklegung.
Maria Katarzyna Lasatowicz, Andrea RudolphOpole, im Mai 2013