Zweihundert Jahre nach der Erstveröffentlichung der ersten drei Bände von Dichtung und Wahrheit (1811-1814) liegt noch keine Untersuchung zu Goethes längstem autobiographischem Werk vor, die der äußerst komplexen, exoterisch-esoterischen Erzählstruktur des Gesamttextes gerecht wird. Die vorliegende Studie unternimmt diesen Versuch und verbindet dabei zwei methodische Deutungsansätze: einen medizingeschichtlich-narratologischen (die Selbstheilungsgeschichte eines Hypochonders) mit einem pragmatisch-poetologischen (die Selbstverteidigung des Künstlers gegen die religiös-politischen Vereinnahmungsversuche seiner Kritiker). Dass Goethes Autobiographie zum ersten Mal aus ihrem wissenshistorischen und publizistischen Kontext heraus interpretiert wird, gewährt dem aus seiner teleologischen Aura befreiten Text einen erfrischend neuen Zugang.