Im späten 18. und im 19. Jahrhundert formierte sich der bürgerliche Geschlechterdiskurs, wie er - zumindest in Relikten - bis heute wirksam ist: Einer mit Aktivität und Rationalität gleichgesetzten Männlichkeit steht hier dichotom eine mit Passivität und Emotionalität konnotierte Weiblichkeit gegenüber. Das innerhalb dieses Zeitraums entstandene novellistische Werk des bürgerlich-realistischen und häufig im Ruch der Verzopftheit und der Misogynie stehenden Autors Gottfried Keller könnte Geschlechterkategorien dementsprechend innerhalb solcher Parameter verhandeln.

Tatsächlich trifft aber das genaue Gegenteil zu: Die Art und Weise, wie männliche Identitäten bei Keller innerhalb nur scheinbar konventioneller Handlungsstrukturen konstruiert werden, zeigt hingegen, dass der Schweizer alternative, ganz und gar nicht duale, sondern vielmehr multidimensionale und fluide Geschlechterkonzepte entwickelt. Dem literarischen und wissenschaftlichen Interesse an solchen Gender-Kategorien ist er damit über hundert Jahre voraus.