Texte entstehen auf vielfältige Weise. Häufig gibt es nicht nur einen Verfasser, sondern es sind zwei, drei oder noch mehr Personen, die an einem Text mitschreiben. Insbesondere in Lehr-/Lern¬kontexten liegt es nahe, dass gemeinsam geschrieben wird; in solchen Konstellationen müssen die Schreibenden nicht nur viele kleinere Teilaufgaben im Schreibprozess bearbeiten, sondern sie müssen auch den Schreibprozess und parallel ihre Interaktion gestalten. Gemeinsames Schreiben wurde zunächst in der US-amerika¬nischen Schreibforschung, aber auch später in Europa in erster Linie in einem didaktischen Kontext gesehen und bezeichnet eine Form des gemeinsamen Lernens. Gemeinsames Lernen bzw. ‚Collaborative Learning‘ als didaktische Methode hat eine lange Tradition; im gegenwärtigen didaktischen Diskurs ist es eng mit David und Roger Johnson verknüpft. Johnson, Johnson und Smith (1998:27) zeigen auf der Basis von 168 Studien, die über 73 Jahre ‚Collaborative Learning‘ dokumentieren, dass besonders im akademischen Kontext gemeinsames Lernen um 150% effektiver ist als individuelles Lernen. Ede und Lunsford (1992:62) haben mit einer groß angelegten quantitativen Studie nachgewiesen, dass gemeinsames Schreiben durch die unterschiedlichen Sichtweisen und Expertisen der Schreibenden zu einem besseren Schreibprodukt mit weniger Fehlern führt. Dennoch stehen viele Schreibende der gemeinsamen Textproduktion ablehnend gegenüber (Chisholm 1990:91), was ein explorativer Blick in den Schreibberatungsalltag an Hochschulen bestätigt. Damit Studierende die Hemmung vor dem gemeinsamen Schreiben abbauen und lernen, den Schreibprozess gemeinsam produktiv zu gestalten, sollte es langfristig eine Aufgabe der Schreibdidaktik sein, gemeinsam Schreibende dazu anzuleiten, sich die jeweilige interaktive Konstellation bewusst zu machen und ihr sprachliches Handeln im Rahmen dieser Konstellation zu reflektieren. Auf diese Weise soll eine Arbeitsatmosphäre geschaffen werden, die für beide Interaktanten angenehm und produktiv ist und in der ein guter Text entsteht. Um diesem Ziel einen Schritt näher zu kommen, wurde in dieser Arbeit auf der Grundlage der Schreibforschung und mit der Methode der Konversationsanalyse der Gesprächstyp Schreibinteraktion untersucht, um einen besseren Einblick in die Beschaffenheit der Probleme zu erlangen, die gemeinsam Schreibende bei der interaktiven Textproduktion zu bewältigen haben. Der Fokus liegt in dieser Untersuchung also nicht auf Schreibinteraktionen als didaktischem Instrument, sondern den Untersuchungsgegenstand bilden die Schreibinteraktionen selbst. Dafür wurden sieben Schreibinteraktionen analysiert, in denen jeweils zwei Studierende gemeinsam ein Bewerbungsanschreiben verfassen und ein Formular ausfüllen. Die Kriterien für die Analyse sollen aus dem empirischen Material selbst gewonnen werden, daher wird eine Fallanalyse durchgeführt, womit dem aus der qualitativen Sozialforschung stammenden Offenheitsprinzip der Konversationsanalyse entsprochen wird. Ziel dieser exemplarischen Analyse ist es einerseits, interaktive Aspekte, die für Schreibinteraktionen konstitutiv sind, zu rekonstruieren (vgl. Kallmeyer 1985), d.h. sichtbar zu machen, welche Aufgaben in der Schreibinteraktion bearbeitet werden, und andererseits zu rekonstruieren, mit welchen interaktiven Verfahren dies passiert. Für eine holistische Betrachtung der Interaktion müssen ergänzend zum verbalen Kanal auch die nonverbalen und paraverbalen Kanäle berücksichtigt werden. Daher wird zusätzlich auf Methoden der multimodalen Analyse (vgl. Schmitt 2007) zurückgegriffen.
Die vorliegenden visuellen Daten wurden zunächst einer ‚visuellen Erstanalyse? (Schmitt 2007) unterzogen, bei der mithilfe des Annotationsprogramms ELAN relevante nonverbale Pas-sagen festgehalten wurden. Anschließend wurden die audiovisuellen Daten mit der Transkripti-onssoftware f4 transkribiert; dieses Programm ist durch eine Steuerung des Abspieltempos be-sonders gut geeignet, audiovisuelle Daten detailliert zu transkribieren. Die so entstandenen Transkripte wurden einer Mehrebenenanalyse unterzogen. Anschließend wurden die Transkripte und die Videodateien in das Annotationsprogramm ELAN eingespeist und auf der Grundlage der entwickelten Analysekategorien mit Abgleich der Mehrebenenanalysen der weiteren Gespräche des Korpus annotiert. Auf diese Weise wurde gewährleistet, dass das gesamte Korpus von ca. fünf Stunden Videomaterial effektiv für die Gesamtanalyse genutzt werden konnte.
Basierend auf den Ergebnissen der Fallanalyse wurde in Anlehnung an das Schreibpro-zessmodell von Hayes (1996) ein Schreibprozessmodell für dyadische Schreibkonstellationen entwickelt, anhand dessen die Analysekriterien für das Gesamtkorpus generiert wurden. Unter Berücksichtigung der methodischen Grenzen der Konversationsanalyse, bereits vorliegender Forschungsergebnisse und meines Erkenntnisinteresses wurde anschließend die These aufgestellt, dass zwischen der Beziehungskonstellation und dem Aushandeln von Formulierungen und Herstellungs¬kriterien ein starker Zusammenhang besteht. Daher wurden die Produktion von Vorschlägen, die Reaktion auf Vorschläge, das Formulieren und Begründen von Kritik, die Reaktion auf Kritik, der Übergang zum Aufschreiben und das Aushandeln von Herstellungskriterien über das gesamte Korpus anhand der Kriterien ‚Abhängigkeit von der Beziehungskonstellation‘ und ‚Abhängigkeit von der Rollenkonstellation‘ ausführlich untersucht.
Mit Ausnahme der Rolle der schreibenden Person, die bei allen Tandems während der ein-zelnen Schreibaufgaben gleich bleibt, werden in den Interaktionen lediglich die Rollen von Experten und Laien an verschiedenen Stellen konstituiert. Durch Aktivitäten der Aushandlung von Formulierungen und Herstellungskriterien positionieren sich die Interaktanten auf unterschiedliche Weise. Insbesondere durch Präsentationen von Vorschlägen, mit denen sie implizit externe Normen relevant setzen, sowie vorschlagsvorbereitende und -begründende Erläuterungen oder Zurückweisungen und Begründungen von Kritik, mit denen sie Expertenwissen relevant setzen, positionieren sich Interaktanten als Experten, womit sie gleichzeitig dem Gegenüber die Rolle eines Laien zuweisen. Die Positionierung als Laie manifestiert sich hingegen in Rechtfertigungen von Kritik, in denen Unwissenheit und Unerfahrenheit relevant gesetzt wird, und der Präsentation abgeschwächter Vorschläge. Dass Interaktanten unterschiedliche Rollen einnehmen, ist selbstverständlich und wirkt sich nicht per se negativ oder positiv auf die Schreibinteraktion aus. Problematisch wird es dann, wenn sie beispielsweise um die Rolle des Experten konkurrieren, was sich etwa in der Art und Weise niederschlägt, wie Inhalte ausgehandelt werden, und dies zu einer Gesichtsbedrohung eines oder beider Interaktanten führt. Auch das Einnehmen einer Laienrolle kann unter Umständen negative Konsequenzen haben, wenn beispielsweise eine Person aus ihrer Laienrolle heraus die Verantwortung für den Prozess und/oder das Produkt abgibt.
Die Beziehung zueinander wird aber nicht nur durch die Konstituierung von Rollen gestal-tet. Die Analyse hat deutlich gezeigt, dass sich auch die Art und Weise, in der die Interaktanten Formulierungen und Herstellungskriterien aushandeln, auf die Beziehung auswirkt und dass um-gekehrt die Beziehung wiederum die Art und Weise der Aushandlung beeinflusst. So können die gewählten Verfahren ebenso dazu beitragen, dass eine angenehme und produktive Arbeitsatmos-phäre entsteht, wie sie eine solche gefährden können.
Neben dem Einfluss des jeweiligen Beziehungs- und Rollenmanagements auf die Schreib-interaktion haben sich in der Analyse weitere Schwierigkeiten angedeutet, mit denen gemeinsam Schreibende konfrontiert sind, wie etwa die Planung des Prozesses, der Umgang mit fehlender oder unterschiedlicher Motivation und deren Einfluss auf den Schreibprozess, der Umgang mit der gemeinsamen Verantwortung etc. Solche Probleme können die Schreibinteraktion erheblich belasten. Daher ist es notwendig, dass Personen, die gemeinsam schreiben wollen oder müssen, systematisch geschult werden, indem sie dabei unterstützt werden, sich die Komplexität konversationeller Schreibinteraktionen bewusst zu machen, ihr sprachliches Handeln in der Schreibinteraktion zu reflektieren und die einzelnen Teilschritte gemeinsamer Textproduktion systematisch einzuüben. Die Arbeit schließt mit einem Ausblick darauf, wie ein Schreibprozessmodell für das gemeinsame Schreiben entwickelt werden und empirisch geprüft werden könnte, damit es langfristig als Grundlage von Schulungseinheiten dienen kann.