In Stendhals Roman Le Rouge et le Noir (1830) verkörpert Julien Sorel den Typus des gesellschaftlichen Aufsteigers. Der unbemittelte Sohn eines Sägemühlenbesitzers aus der Provinz verdingt sich als Hauslehrer bei den de Rênals. Während eines Konversationsabends wagt er es, die Hand der Aristokratin Madame de Rênal zu ergreifen. Die vorgetäuschte Liebesgeste entspringt einem Machtkalkül: Julien will die aristokratische Dame verführen, um Rang und Vermögen zu erlangen.
Das bürgerliche Zeitalter ist als eine Episteme der Opazität beschreibbar: Machtverhältnisse beruhen auf Praktiken der Verstellung. Im Pomp des religiösen Zeremoniells spiegelt der Kleriker nur Devotion vor; der Kapitalist gibt sich als Philanthrop; der Bürger simuliert aristokratische Repräsentationsformen; selbst die Liebeskommunikation ist hypokrit manipuliert. Diese Mechanismen der Verstellung werden jedoch erst in der Literatur und Kunst aufgedeckt. Der Roman und die Karikatur sind die zentralen Medien der Gesellschaftskritik im Frankreich des 19. Jahrhunderts. Ihre Darstellungsleistung liegt darin, die böse Abgründigkeit der Hypokrisie an die Oberfläche zu heben und die sich entziehende Doppelbödigkeit von Schein und Sein zu erfassen.
Das vorliegende Buch setzt erstmals die scharfsinnigen Gesellschaftsanalysen Stendhals und des bedeutenden Karikaturisten Honoré Daumier zueinander ins Verhältnis. Die Ästhetik von Roman und Karikatur entfaltet ihr analytisches Potential in Auseinandersetzung mit Molières Komödienfigur Tartuffe und dem pointenreichen Stil der klassischen Moralistik.