Ist Ludwig Reiners’ Stilkunst ein Plagiat? Hat er aus Eduard Engels (1851-1938) Stilkunst abgeschrieben? Oder reiht sich Reiners (1896-1957) in eine lange Traditionslinie ein, die dadurch gekennzeichnet ist, dass die Autoren griffige Zitate und schmissige Beispiele von ihren Vorgängern übernehmen, ohne auf die Quelle zu verweisen? Engels Stilkunst erschien erstmals 1911 – sie erlebte 31. Auflagen. 1933 erteilten die Nationalsozialisten dem Autor – er war jüdischer Herkunft – Publikationsverbot. Reiners war Mitglied der NSDAP. Die Schriftstellerei war sein Hobby; im Hauptberuf war er Kaufmann. Seine Stilkunst erschien 1944 und ist noch heute im Handel erhältlich. In ihren Sprachratgebern stellen Wustmann, Engel, Reiners und Co. Regeln für einen guten Stil auf. Sie zeigen Unsicherheiten im Sprachgebrauch auf und präsentieren ihren Lesern überzeugend, aber meist ohne wissenschaftliche Argumente eine Lösung. Aufgrund ihres normativen Charakters werden Stilratgeber der Laienlinguistik zugeschrieben. Das Thema ‚Plagiat‘ hat stets Konjunktur, wenn Personen des öffentlichen Interesses betroffen sind. Der Umgang mit Plagiaten wird kontrovers diskutiert. Stilratgeber konnten sich dieser Diskussion bisher weitgehend entziehen und ihre „Abschreibtradition“ ungehindert pflegen. Vor diesem Hintergrund wird betrachtet, inwiefern Engel und Reiners ihren Vorgängern verhaftet sind. Zentral ist schließlich die Frage, ob Reiners diese sprachberatende Tradition fortführt oder er die Stilkunst seines Vorgängers Engel ausgeschlachtet hat. Reiners hat einem Spiegel-Artikel von 1956 zufolge über den Umgang mit seinen Quellen gesagt: „Das lasse ich hemmungslos abschreiben. Dafür besitze ich Kinder und Sekretärinnen.“ Bezeichnend ist dieser Ausspruch deshalb, weil in Reiners’ Stilkunst hunderte von Übereinstimmungen mit Engels Werk nachgewiesen werden können. Die Frage, wie viel die nächsten Generationen der Stillehren (z.B. von Wolf Schneider) davon übernommen haben, ist offen.