Die Bilder des Canzoniere Palatino, der als einzige der drei großen Liedersammlungen der frühen italienischen Lyrik mit Miniaturen versehen ist, sind bisher überwiegend als Illustrationen der jeweiligen Texte gedeutet worden. Eine sorgfältige ikonographisch-ikonologische Analyse ergibt jedoch, dass fast drei Viertel der dargestellten Szenen keinen prägnanten Textbezug haben, vielmehr durch ihre Figuren, deren Positionierung und Gebärden performativ auf die höfische Vortragssituation verweisen: auf Auftritt oder Abgang, auf mögliche theatralische Gestaltung, auf die allgemeine Befähigung zu conversatio bzw. piacevolezza.

Mehrheitlich geht es um mustergültiges Verhalten beim Vortrag. Das lässt an einen Einfluss des auf Verhaltenslehren spezialisierten Francesco da Barberino auf das Bildprogramm denken, der auch in den beiden großen Bildern eines Amorhofs und einer lyrischen Huldigungsszene durchscheint. Der Canzoniere Palatino wäre somit eine Art bildliches „speculum curialitatis“.