Der Prozess des Selbstverständnisses, wie er in Autobiographien zum Ausdruck kommt, hat für Wilhelm Dilthey Modellfunktion für das geschichtliche Verstehen überhaupt. Um den systematischen Stellenwert der literarischen Selbstbeschreibung in Diltheys Philosophie zu erfassen, versucht die vorliegende Studie eine umfängliche Rekonstruktion seines Autobiographiekonzepts aus den gesammelten Schriften zu gewinnen und sie gegen vereinfachte Forschungsdarstellungen abzugrenzen. Das autobiographische Selbstverständnis kann als eine konstruktive Verstehensleistung aufgefasst werden, die Paul Ricoeurs Konzept narrativer Identität in einem erstaunlichen Ausmaß antizipiert. Das Verstehen anderer als eine Form der Transposition des Selbstverständnisses wird zur zeitgenössischen Empathieforschung und zu aktuellen Aspekten der Literaturphilosophie in Bezug gesetzt. Damit entsteht ein innovatives Bild von Diltheys Verstehenslehre, das anschlussfähig für viele Forschungsansätze bleibt.