1735 veröffentlichte Johann Georg Zur Linden in Jena die "Ratio meditationis hermeneuticae imprimis sacrae methodo systematica proposita". Sein Werk ist das Resultat eines unerwarteten Bündnisses zwischen der wolffschen Aufklärung und dem Pietismus nach dem harten Zusammenstoß dieser beiden Richtungen, der seinen Höhepunkt in der Verbannung Wolffs aus Halle fand. In den folgenden Jahren trat eine neue kulturelle Figur in Erscheinung, der Aufklärer-Pietist oder umgekehrt, der die Hoch- und Spätaufklärung beherrschte und zu dessen ersten Repräsentanten Zur Linden zählt. Obgleich die Ratio von den Vorschriften der logischen Hermeneutik ausgeht, beruht sie auf einer Aufwertung der Themen der antiken Rhetorik und konzipiert die Hermeneutik als eine auf die Mittel-Zweck-Rationalität gestützte Technik, der die Aufgabe zukommt, die besten Mittel für das Verstehen von Texten und Reden festzulegen. Die heilige Hermeneutik von Zur Linden zeichnet sich durch wenigstens vier innovative Aspekte aus: 1. Den Vorschlag einer allgemeinen Hermeneutik probabilistischer Art. 2. Eine eingehende Untersuchung der verschiedenen Sinnbegriffe und ihrer Wechselbeziehungen. 3. Die Kritik am Besserverstehen als Auslegungsziel. Die kritischen Punkte des Textes dürfen nicht zugunsten seiner Nichtwidersprüchlichkeit ausgemerzt werden, weil jede Verbesserung leicht in eine Manipulation des Sinns ausarten kann. 4. Die mögliche Nichtübereinstimmung zwischen dem, was der Autor sagen will, und dem, was er tatsächlich sagt. Für Zur Linden hat der Textsinn unzweifelhaft Vorrang und bildet den einzigen möglichen Zugang zum Autorsinn. Seine autorbezogene Texthermeneutik stellt sich noch heute als originelle, beachtenswerte Leistung dar.