Im breiten Spektrum geistlichen Regelschrifttums bieten vernakularsprachliche Regeltexte Gelegenheit, das Ringen der mittelalterlichen Gesellschaft um Heilsgewissheit näher in den Blick zu rücken und den unscharfen Begriff mittelalterlicher ‘Laienfrömmigkeit’ präziser zu fassen. Sie führen uns unterschiedliche Strategien vor, um den Anspruch eines theologischen Ideals mit den Herausforderungen konkreter Lebensrealität zu verbinden und lassen uns christliche Spiritualität und Lebenspraxis nicht als eine über Jahrhunderte festgefügte Gegebenheit, sondern vielmehr als einen im Grunde nie abgeschlossenen Entwicklungsprozess begreifen.
Marion Freundl legt mit ihrer Edition die Übersetzung der frühmittelalterlichen „Regula solitariorum" aus dem Regensburger Kloster St. Emmeram vor. Diese mittelhochdeutsche Fassung hat im Unterschied zum lateinischen Original explizit die „ungelehrten Männer und Frauen" im Blick, wie die eigens konzipierte Vorrede ausdrücklich vermerkt. Als aufschlussreiche Quellen zur Genese christlichen Traditionsbewusstseins haben solche Regeltexte ihre Aktualität keinesfalls verloren und verdienen auch in der gegenwärtigen Zeit unsere Aufmerksamkeit.